Raum- und Klangskulptur SICHTUNG I
Einklang von Metallbau und KunstAm Rand eines Kiesabbaugebiets im oberbayerischen Reithofen steht ein 32,4 Meter hohes Kunstobjekt aus Stahl. Entworfen, errichtet und finanziert haben es der ortsansässige Metallbildhauer und Kunstschmiedemeister Christian Neumaier und seine Partnerin, die Architektin Hildegard Rasthofer.
Reithofen ist ein Gemeindeteil von Pastetten, einem 3000-Seelen-Ort im Landkreis Erding, und liegt in der Münchener Schotterebene, östlich der bayerischen Landeshauptstadt. In Richtung Süden kann man von dort aus bei guter Sicht bis tief in das Alpenvorland hinein und auf den Alpenkamm sehen. Just am Rande dieses Dorfes steht eine schlanke, hohe Stahlskulptur. Ein Fremdkörper, möchte man meinen. Weithin sichtbar erhebt er sich über die flache Landschaft, die geprägt ist von Feldern, Kiestagebau und Zwiebelturm. Die Architektin Hildegard Rasthofer und ihr Partner, der Metallbildhauer Christian Neumaier, sind in der Gemeinde beheimatet und haben das Kunstwerk mit dem Titel SICHTUNG I am Rande einer Schottergrube unweit der Werkstatt Neumaier aufgebaut.
Projektidee und Konstruktion
Das selbst finanzierte Projekt beschreiben die Künstler als temporäre künstlerische Installation im Außenraum, die „als orts- und situationsspezifisches Werk bei jedem Aufbau als Objekt und Ereignis neu entsteht“. Nicht nur kunstsinniges Publikum von weither wusste sich für die begehbare Großskulptur zu begeistern. Auch die einheimische Bevölkerung zeigte großes Interesse und unterstützte das außergewöhnliche Vorhaben.
Am 15. Oktober wurde die Konstruktion innerhalb von 24 Stunden aufgebaut: 13 identische, jeweils um 90° gedrehte Stahl-Kuben wurden zu 32,4 Metern Höhe aufeinandergetürmt und miteinander verschraubt.
Das Kunstwerk kann nach Anmeldung besichtigt werden – solange es noch an besagtem Ort in Reithofen steht. Die Führung beginnt an der Werkstatt des Metallbildhauers und geht weiter über einen sich zwischen Kiesgruben dahinschlängelnden Feldweg. Nach etwa zehn Minuten Fußmarsch hat der Besucher SICHTUNG I erreicht. Sein Blick wandert steil nach oben. Was er sieht, sind gewaltige 70,4 Tonnen Stahl. Ein einzelner Kubus misst 2,4 x 2,4 x 2,4 Meter und wiegt rund 4,8 Tonnen. Bis zur offenen Plattform auf rund 30 Metern Höhe muss der Besucher 156 Stufen hinaufsteigen. Die innenliegende dreiläufige Treppe mit Viertelpodesten besteht, genau wie die Außenhaut, aus unbehandeltem Baustahl.
Außenhaut
Zwei Zentimeter starke, rechtwinklig aneinandergeschweißte Scheiben bilden die Außenhaut der Konstruktion. Zwei einander diagonal gegenüber liegende, 48 Zentimeter breite Einschnitte vom Boden bis zur Decke geben in jedem Kubus den Blick in die umgebende Landschaft frei. In ihrer Gesamtheit generieren die Lichtschlitze ein durch die 90-Grad-Drehung bedingtes rhythmisiertes Fassadenbild.
Das einfallende Licht illuminiert punktuell Wände und Stufen. Die sich ständig ändernden Schatten und Umrisse machen den Tagesablauf erleb- und sichtbar. In unterschiedlichen Tönen und Helligkeitsstufen changiert die natürliche Farbigkeit der metallenen Oberfläche zwischen silber, blau, grün, rot, orange, braun und schwarz. Die Stahlhaut trägt zahlreiche Versehrungen und eine für den unbehandelten Baustahl charakteristische Patina. Die Chargenzahlen der Bleche kann man darauf mit bloßem Auge noch erkennen.
Fertigung und Montage
„Ab dem Zeitpunkt, an dem der Entwurf für die Arbeit stand, hat die technische Realisierung etwa zehn Monate in Anspruch genommen. Gefertigt wurde komplett in der eigenen Werkstatt. Den Brennschnitt haben wir extern beauftragt. Für die Schweißarbeiten kam ein Roboter zum Einsatz“, berichtet Neumaier. Von der Organisation über die statische Untersuchung, die technische Prüfung, die handwerkliche Produktion, den Transport bis zum Aufbau waren rund 50 Personen beteiligt. Die Module wurden mit Tiefladern zum Aufbauort transportiert und mit Hilfe eines Autokrans nacheinander aufgebaut. Größere Verzögerungen oder Probleme im Montageablauf gab es keine, da jedes Modul, so bestätigt es die Architektin, maßgetreu gefertigt ist. Produziert wurde in mehreren Chargen; zunächst entstand ein Probemodul, anhand dessen die einzelnen statischen Anforderungen besprochen und die entsprechenden Details wie zum Beispiel Schweißnähte getestet wurden.
Für die Fertigung der innenliegenden Treppe und der Podeste kam eine Holzschablone zum Einsatz. Diese setzten die Handwerker während des Produktionsablaufs in den aus Konstruktionsstahl gefertigten Grundrahmen für die Außenhaut. „Die Toleranzgrenze bei der Fertigung lag bei den im Stahlbau üblichen zwei Millimetern. Selbst aufgebaut weicht die Skulptur nur 26 Millimeter aus dem Lot ab“, berichtet Neumaier.
Kurz vor Aufbau der Skulptur legte man das Fundament. Es besteht aus einer 80 Zentimeter tief im Kiesbett eingelassenen, rund 12 x 12 Meter großen, mit Rippen ausgesteiften Grundplatte aus Stahl. Das Sockelmodul (3,20 x 2,40 x 2,40 m) der Skulptur mündet in den Boden und ist mit Schwertern über Schraubverbindungen an den Rippen verankert.
Zulassung und Anschlusspunkte
Die Module sind mit Flanschen statisch verschraubt. Anschlüsse und Detailpunkte sind hinsichtlich ihrer Anforderungen vom TÜV geprüft, das Drehmoment bestimmt und einzeln abgenommen. Die Schrauben haben Durchmesser von M16 bis M30. Allein die Schrauben wiegen in Summe etwa 250 Kilogramm. Rasthofer ergänzt: „Unsere Arbeit hat eine prüftechnische Zulassung durch den TÜV Süd als sogenannter Fliegender Bau. Das erleichtert die geplanten Standortwechsel. Sie sind Teil des künstlerischen Konzepts. Die modulare Skulptur ist darauf ausgelegt, in kurzen Zeiträumen auf- und wieder abgebaut zu werden. Das konstruktive Prinzip ist durch Designschutz und Patentanmeldungen geschützt.“
Klingendes Material
Zum Erleben von Raum, Material, Farbe, Volumen und Licht kommt eine klangliche Wahrnehmung der Skulptur hinzu: Die stählernen Stufen biegen sich unter Belastung minimal und federn bei Entlastung in ihren Ausgangszustand zurück. So erzeugt das Besteigen der Treppenstufen Töne. Auch dehnt sich das Material durch partielle Sonneneinstrahlungen der Skulptur unterschiedlich aus; es entstehen Spannungen, die sich immer wieder entladen und als nahezu sphärischer Klang die ganze Konstruktion durchziehen.
Auf Reise gehen
Wie ihr Eindruck von der Skulptur denn sei, werden einige Besucher nach ihrem ersten Aufstieg im Oktober 2018 in einer Filmdokumentation gefragt. Die Antworten lauten: „sehr beeindruckend“, „ein Erlebnis“ oder in breitestem Bayerisch „goanz a raffinierte Konschtruktion“. Die Skulptur ist eine Sichtung im wahrsten Sinne des Wortes, weil sie hoch, begehbar und ephemer zugleich ist und differenzierte Aus- und Einblicke gewährt. Gleichzeitig hält der Bau in übertragenem Sinne selbst Ausschau nach einem neuen Wirkungsort, der, wie die Architektin meint, „ein sinnvolles Zusammenspiel mit der Umgebung“ ermöglichen wird. Der Genius Loci müsse sie und ihren Partner überzeugen, „sonst funktioniert es nicht“.
Allein schon wegen der gewaltigen Dimension der Skulptur erweist sich die Suche nach einem neuen Standort als ziemlich anspruchsvoll. Doch, so lassen es die beiden Künstler wissen, sind schon Verhandlungen mit möglichen Interessenten für eine nächste Stellung der Skulptur im Gange.
Bautafel SICHTUNG:
- 70,4 Tonnen Stahl, Dimensionen variabel, in der Fassung Reithofen 2,4 x 2,4 x 32,4 Meter gefertigt in der Werkstätte von Metallbau Neumaier
- Projektmitarbeit (in alphabetischer Reihenfolge): Andreas Baumann, Ralph Drechsel, Alfred Dudek, Andreas Flei, Benedikt Greckl, Quirin Haider, Felix Hupfer, Andreas Kunze, Andrea Lübcke, Elisabeth Maier, Gisela Schillinger, Bernhard Schindlbeck, Thomas Seidl, Wolfgang Seiss, Hannah Wiesenfeldt, Anne Wild, Robert Winzinger, Alois G. Zollner
- Baustatik: Dipl.-Ing. Univ. Klaus Stocker
- Vermessung: Ingenieurbüro für Geodätische Aufgaben Robert Lang
- Bodengutachten: Dipl.-Geol. Norbert Kampik
- technische Prüfung und Abnahme als fliegender Bau: TÜV Süd