Weltmeister Tom Carstens
Schmieden für den FriedenMit geschmiedeten Nägeln und Mohnblumen engagiert sich Tom Carstens für Friedens- und Erinnerungsprojekte. Für sein Engagement beim Kunstprojekt „Isartaler Weibsbilder“ erhielt er im März eine Auszeichnung vom bayerischen Kultusministerium. Ein Ortsbesuch beim Weltmeister der Kunstschmiede in Münsing am Starnberger See.
Fast könnte man denken, man sei in eine Szene aus Bullerbü hineingeraten oder Pippi Langstrumpf reitet gleich um die Ecke. Wenn man die Auffahrt zum Biobauernhof hinauffährt, wo Tom Carstens lebt und arbeitet, wird man von gackernden Hühnern begrüßt, ein Esel namens Xaver beäugt einen argwöhnisch, ein Shetlandpony mit zottelig-blonder Pony-Frisur kommt neugierig näher. Drei Kilometer Luftlinie vom Starnberger See entfernt hat der Metallgestalter und Kunstschmied Tom Carstens seine Wirkungsstätte.
Eine Werkstatt für Hephaistos
Tritt man in seine Werkstatt, verstärkt sich der Eindruck, eine Zeitreise in die Vergangenheit zu machen. Am Brennofen mit offenem Feuer könnte auch Hephaistos, der Gott des Feuers und der Schmiedekunst, persönlich stehen. Er hätte die Wahl zwischen 40 verschiedenen Ambossen. So viele hat Tom Carstens inzwischen gesammelt. Der kleinste davon wiegt zwei Kilogramm, der größte 230 Kilo. Und der älteste stammt aus dem 17. Jahrhundert. Trotz des historischen Ambientes betont der 50-Jährige, dass er nicht in der Vergangenheit lebe. Aber als Metallgestalter ist es ihm wichtig, die Historie zu kennen und genau zu verstehen, was mit Bronze, Eisen und Edelstahl während der Bearbeitung passiert. So wie es schon vor 4.000 Jahren gemacht wurde, hat der Metallgestalter Eisen aus Raseneisenerz und Torf im selbst gebauten Brennofen hergestellt. Er sieht sich als Handwerker mit Liebe zur Kunst und sagt: „Der Beruf lernt einen Demut. Denn bei der Arbeit mit Eisen – gerade auch bei Feuerschweißarbeiten oder bestimmten Querschnitten – stößt man auch manchmal an seine Grenzen.“
Ordnung ist ihm wichtig und das sieht man auch. In der Werkstatt ist alles picobello sauber. Ordentlich in Reih und Glied hängen Zangen und Hämmer in verschiedenen Größen an der Wand. Der Bêché-Lufthammer 50 kg aus dem Jahr 1969 hilft bei den schweren Arbeiten, es gibt einen Gasschmiedeofen und Arbeitsplätze für Praktikanten, die regelmäßig Schmiedeluft bei ihm schnuppern. Die kommen oft von weit her – zum Beispiel aus Israel und den USA, aber auch die Lehrlinge vom Kölner Dom haben schon bei Carstens gelernt.
Zwei Aufträge sind gerade in Bearbeitung, als ich ihn besuche: ein Briefkasten für einen Verleger ist fast fertig und muss noch lackiert werden. Und ein Metallstück liegt auf der Werkbank, aus dem ein Raumteiler entstehen wird. Carstens: „Am schönsten ist es, wenn ich einen Gebrauchsgegenstand machen kann, der das Nützliche mit dem Schönen verbindet. Der Raumteiler ist gleichzeitig als Skulptur erkennbar.“
Ein Bayer wird Weltmeister in der Toskana
Ein gewisser Hang zum Perfektionismus zeichnet ihn aus, und seine Beharrlichkeit wurde letztes Jahr belohnt, als er zum vierten Mal bei der Weltmeisterschaft der Schmiede in der Toskana antrat und endlich ganz oben auf dem Siegerpodest landete. 2009 und 2019 belegte der Metallbauer den zweiten Platz, 2023 nun wurde die Gestaltung eines Puzzleteils mit dem Weltmeistertitel gekrönt.
Gegen 300 Teams aus der ganzen Welt hatte sich das vierköpfige Team um Carstens in der kleinen Stadt Stia nahe Florenz durchgesetzt. Seitdem ist der bayerische Schmied noch gefragter als zuvor und die Aufträge flattern stetig ins Haus. Vier bis fünf Monate im Voraus sei er ausgebucht, „denn es hat sich herumgesprochen, dass wir außergewöhnliche Dinge machen“, so Carstens. Seine Skulpturen und Kunstwerke stehen unweit im Dorf – Till Eulenspiegel – oder im Altmühltal bei einem Milchbetrieb – eine Kuh – oder am Zweitwohnsitz von gut situierten Privatkunden in St. Tropez oder Hongkong.
In jedem Fall schöne Dinge
Letztes Jahr hat er einen vier Meter hohen Engelsflügel gestaltet, eine der schwersten Gartenplastiken wog 4,5 Tonnen. Daneben entwirft er Gartenzäune und Grabmale für private Auftraggeber und Skulpturen für öffentliche Auftraggeber, wie zum Beispiel die Gemeinde Wolfratshausen, die dann einen Kreisverkehr verzieren.
Schöne Dinge gestalten und unterschiedliche Werkstoffe miteinander aufs Beste zu verbinden – so könnte man die Aufträge auf einen Nenner bringen. Carstens sagt: „Sich mit schönen Dingen umgeben bedeutet, sein Leben schön zu gestalten. Und dazu trage ich mit meinen Skulpturen bei.“
Für einen Schlossbesitzer baute er eine Werkbank aus dem 17. Jahrhundert zu einem Esstisch um; die Schraubstöcke aus Holz blieben voll funktionsfähig. Auch der Tisch im Seminarraum im Nebengebäude zur Werkstatt besticht durch die Kombination aus edler Tischplatte aus Walnussholz und den ungewöhnlichen Tischbeinen aus gewinkeltem und vernietetem Vierkantstahl. Beim Schlagen und Schneiden des Walnussbaums in der Region war Carstens dabei. Die Küche im Seminarraum stammt vom Premium-Hersteller Gaggenau, der auch zu Carstens Kundenstamm zählt. Das Unternehmen veranstaltet Meisterschaften für Weinsommeliers und die Pokale für die Gewinner stammen von Carstens. Etwas „Cooles, Freches und zugleich Edles“ schwebte den Wineslingers vor, als sie Carstens beauftragten, Weinregale für ihren Shop in München zu entwerfen. Die Bronzebleche der stylischen Regale wurden von Carstens mit einer alten Ätztechnik verziert.
Traumberuf Schmied
Dass er einmal Schmied werden wollte, war Carstens schon als Achtjährigem klar. Auf dem Weg zur Schule kam er beim Dorfschmied vorbei und nachdem er eine Folge von Michel aus Lönneberga im Fernsehen gesehen hatte, in der er ein Pferd geschenkt bekam, spielte Tom mit seinen Freunden Schmied. Nach der Lehre zum Metallbauer sattelte er noch eins drauf und ließ sich zum staatlich geprüften Hufschmied ausbilden. Ab 1995 war er drei Jahre lang als Lehrmeister beim Freistaat Bayern tätig und bildete am Haupt- und Landgestüt Schwaiganger die künftigen Hufschmiede aus; doch dann war damit Schluss: „Der Job beim Staat hat mich nicht ausgefüllt. So habe ich alles verkauft und bin mit meinen VW-Bus auf Wanderschaft gegangen.“ Venedig, Rouen, Paris, Norwegen, Florida und schließlich Tschechien: fünf Jahre und acht Monate lang war Tom Carstens auf Wanderschaft und hat sich als Kunstschmied und Hufschmied „verdingt“. Er war unter anderem Meisterschüler des „Weltschmiedpapsts“, Professor Alfred Habermann.
Werkstatt & Zuhause am Starnberger See
Mit zwei Meisterabschlüssen in der Tasche und wieder daheim in der bayerischen Heimat machte sich Tom Carstens selbstständig. Dass der in Wolfratshausen aufgewachsene Metallgestalter heute ganz in der Nähe am Starnberger See verwurzelt ist, ist eigentlich einer glücklichen Fügung zu verdanken. Denn er hatte auch Angebote aus Kalifornien und Kanada und hätte sich auch vorstellen können, sich dort ein Leben aufzubauen. Seine Frau und er standen kurz davor, die Würfel entscheiden zu lassen. Doch dazu kam es dann doch nicht; denn Bauer Ludwig – genannt Lucki – antwortete auf ihre Anzeige, in der sie nach einer geeigneten Werkstatt Ausschau hielten. 2007 wurde der ehemalige Schweinestall zur Schmiede umgebaut und Carstens und seine Ehefrau Franziska zogen mit Sack und Pferd in den Bio-Bauernhof in Münsing ein.
www.tomcarstens.de
Die Liebe zum Handwerk weitergeben
Junge Menschen für die Handwerkskunst zu begeistern, gehört ebenfalls zu Carstens Leidenschaften. Für sein Engagement bei dem Abschlussprojekt der Abiturientinnen des Geretsrieder Gymnasiums wurde Tom Carstens im März vom Bayerischen Kultusministerium geehrt. Die Gymnasiasten wurden von Tom Carstens und seiner Frau angeleitet, um aus den Modellen aus Pappe und Draht lebensgroße Metallplastiken zu erstellen; die „Isartaler Weibsbilder“ stehen heute im Garten des Gasthauses Flößerei in Wolfratshausen. Carstens war beeindruckt davon, wie diszipliniert die Schülerinnen die Schnittlisten erstellt haben und wie motiviert sie in seiner Schmiede Zink geputzt, gefeilt, geschliffen, poliert und geschmiedet haben. Die Arbeit mit den Jugendlichen ist ihm sehr wichtig, um ihnen Orientierungshilfe zu geben, denn „die meisten haben das Handwerk nicht auf dem Schirm“. Es freut ihn, dass sich zwei der Abiturientinnen fürs Handwerk entschieden haben.
Neben der Arbeit mit jungen Menschen setzen sich Carstens und seine Frau für Friedensaktionen ein. Er gehört zu einer Garde von Schmieden, die für den Frieden schmieden. Heißt: die Friedensnägel mit eingravierter Taube können für eine Spende erworben werden, die karitativen Einrichtungen oder den Menschen in der Ukraine zugutekommt. 2014 hat Carstens die Friedensaktion zusammen mit seinem Kollegen Alfred Bullermann initiiert. In einem Birkenbaumstamm vor dem Eingang der Werkstatt stecken neben den Friedensnägeln auch Nägel von Schmieden aus aller Welt. Jeder eingeschlagene Nagel bedeutet, dass der Schmied oder die Schmiedin gerne wieder hier herkommen möchte.