Checkliste für Zahlungsunfähigkeit
Hinweise für Geschäftsführer
Die Insolvenzen sind im ersten Halbjahr 2023 im Vergleich zum Vorjahreszeitraum um 16,2 Prozent gestiegen. Eine höhere prozentuale Zunahme gab es im Vergleichszeitraum zuletzt 2002. Nach einer Schätzung von creditreform erhöhte sich die Zahl im Verarbeitenden Gewerbe um 22,6 Prozent, im Handel um 18,5 Prozent, im Dienstleistungssektor um 16,7 Prozent und im Baugewerbe um 9,0 Prozent. Der Anteil von Einzelunternehmen betrug 40,3 Prozent - im Vorjahreszeitraum waren es noch 44,5 Prozent.
„Angesichts der gesamtwirtschaftlichen Auswirkungen der Vielzahl an Krisen, die sich seit drei Jahren als Multi-Dauerkrise die Klinke in die Hand geben, der inzwischen durchaus restriktiveren Kreditvergabe der Banken und der allgemeinen Preissteigerung sollten sich Geschäftsleiter – so hart das zunächst klingen mag – regelmäßig mit der Frage `Ist mein Unternehmen noch zahlungsfähig?´ befassen“, rät Rechtsanwalt René Schmidt, der am Leipziger Standort der Kanzlei Schultze & Braun tätig ist.
Da den Geschäftsleitern bei einer verschleppten Insolvenz eine strafrechtliche und zivilrechtliche Haftung droht, sollte das Thema Zahlungsunfähigkeit Chefsache sein - insbesondere weil es bei Unternehmen eine festgelegte Schuldenobergrenze nicht gibt, und ein Aussetzen von Schulden- und Haftungsgrenzen, um nachfolgend wieder Liquidität besorgen zu können, ausgeschlossen ist.
„Grundsätzlich gilt: Kann ein Unternehmen seine fälligen Verbindlichkeiten nicht mehr begleichen, liegt die Zahlungsunfähigkeit vor – bislang der mit Abstand häufigste Grund für Insolvenzanträge. In einem solchen Fall greift die Insolvenzantragspflicht und ein Geschäftsleiter ist dazu verpflichtet, innerhalb der gesetzlichen Frist – in der Regel drei Wochen – einen Insolvenzantrag zu stellen“, erläutert Schmidt. Daran ändern die Anfang November 2022 in Kraft getretenen Erleichterungen im Insolvenzrecht nichts.
Ab wann ist ein Unternehmen zahlungsunfähig?
„Zahlungsunfähigkeit liegt nach Rechtsprechung des Bundesgerichtshofs vor, wenn das Unternehmen zu einem Stichtag zehn Prozent oder mehr seiner fälligen Verbindlichkeiten mit den präsenten liquiden Mitteln nicht begleichen kann und diese Lücke auch nicht innerhalb von drei Wochen unter Beachtung der in dieser Zeit fällig werdenden Verbindlichkeiten mit den in diesem Zeitraum zusätzlich verfügbar werdenden liquiden Mitteln schließen kann“, erläutert Diplom-Kaufmann (FH) und Kreditanalyst Stefan Höge von Schultze & Braun. „Ob ein Unternehmen zahlungsunfähig ist oder nicht, lässt sich für den jeweils aktuellen Tag mit der sogenannten erweiterten Liquiditätsbilanz feststellen, die als Methode seit inzwischen fast 20 Jahren etabliert ist und deren Berechnung in zwei Schritten erfolgt“, so Höge. Die beiden Schritte der erweiterten Liquiditätsbilanz sind:
• Zu einem Betrachtungsstichtag werden die vorhandenen Geldmittel und die noch an diesem Tag zufließenden Gelder aus dem Einzug von Forderungen des Unternehmens den zu diesem Stichtag fälligen Verbindlichkeiten gegenübergestellt.
• Decken die vorhandenen Geldmittel die fälligen Verbindlichkeiten nicht zu mindestens 90 Prozent, muss im zweiten Schritt geprüft werden, ob diese Unterdeckung innerhalb der folgenden drei Wochen beseitigt werden kann. Dazu werden die voraussichtlichen Einnahmen der nächsten drei Wochen und die Verbindlichkeiten, die in diesem Zeitraum fällig werden und daher bedient werden müssen, jeweils zu den Stichtagswerten hinzugerechnet. Wichtig ist allerdings, dass Warenvorräte und teilfertige Leistungen bei der Berechnung erst dann berücksichtigt werden dürfen, wenn diesbezüglich einzugsfähige Forderungen einem Kunden in Rechnung gestellt worden sind und eine Zahlung des Kunden in den drei Wochen zu erwarten ist.
Drei Wochen-Frist hat große Bedeutung
„Wenn klar ist, dass die Geldmittel zum Betrachtungsstichtag und auch perspektivisch in den nächsten drei Wochen die fälligen Verbindlichkeiten nicht vollständig abdecken, ist das Unternehmen bereits zum Betrachtungsstichtag zahlungsunfähig“, sagt Höge. Die beiden dargestellten Schritte der etablierten erweiterten Liquiditätsbilanz zeigen, wie wichtig einerseits die zügige Rechnungstellung für erbrachte Leistungen und gelieferte Waren ist und dass andererseits bei der Antwort auf die Frage „Ist mein Unternehmen noch zahlungsfähig?“ durchaus professionelle Hilfe zu Rate gezogen werden sollte, damit Geschäftsleiter das Risiko einer persönlichen Haftung für sich reduzieren.
Nach der BGH-Entscheidung ist es möglich, an mehreren Stichtagen innerhalb eines dreiwöchigen Zeitraumes jeweils einen vereinfachten Liquiditätsstatus zu erstellen. In diesem vereinfachten Status, der dem ersten Schritt der erweiterten Liquiditätsbilanz entspricht, werden die am jeweiligen Stichtag konkret vorhandenen Geldmittel (Kasse, Bank und an dem Tag zufließende Gelder aus dem Einzug von Forderungen) und die konkret zum jeweiligen Stichtag fälligen und unbezahlten Verbindlichkeiten einander gegenübergestellt. Wenn sich an drei weiteren aufeinanderfolgenden Stichtagen innerhalb eines drei Wochen-Zeitraumes bei dieser Gegenüberstellung herausstellt, dass die Liquiditätslücke jeweils zehn Prozent oder mehr beträgt, gilt das Unternehmen sogar rückwirkend ab dem ersten Stichtag als zahlungsunfähig.
„Für Geschäftsleiter erhöht die vereinfachte Methode das Risiko einer ungewollten, aber gleichwohl strafbaren Insolvenzverschleppung“, sagt Schmidt. „Sie stellen dabei erst mit dem letzten Liquiditätsstatus nach drei Wochen fest, ob ihr Unternehmen bereits zum ersten Stichtag, also drei Wochen zuvor, zahlungsunfähig war. Es ist damit bereits ein beträchtlicher Zeitraum mit eingetretener Zahlungsunfähigkeit vergangen. Hinzu kommt, dass die Frist für die Stellung eines Insolvenzantrages lediglich drei Wochen ab dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit beträgt. Es kann daher sein, dass ein Geschäftsleiter erst am letzten Tag der Frist erfährt, dass er zur Vermeidung von strafrechtlicher und zivilrechtlicher Haftung noch an diesem Tag einen Insolvenzantrag stellen muss, was angesichts der dafür notwendigen Zeit quasi unmöglich ist.“
Wird ein Insolvenzantrag allerdings zu spät gestellt, können dem Geschäftsleiter aufgrund der Haftungsregeln des Insolvenzrechts erhebliche finanzielle Konsequenzen drohen – etwa für Auszahlungen nach dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit. Abhängig vom finanziellen Volumen der Zahlungen und dem Zeitraum der Insolvenzverschleppung hängt in einer solchen Situation über so manchem Geschäftsleiter ein mitunter Millionen Euro schweres Haftungs-Damoklesschwert. Gegebenenfalls sind allerdings im Zusammenhang stehende Kriterien wie ernsthafte Sanierungsbestrebungen und der Masse zugeflossene Gegenleistungen zu berücksichtigen. Das Risiko der vereinfachten Methode liegt gemäß Höge zudem darin, dass sie tendenziell zu verkürzten Berechnungen führt, zukunftsgerichtete Finanzpläne als Instrumente des in der Krise gebotenen verschärften Controllings nicht einbezieht, einen Überhang an zukünftig fällig werdenden Verbindlichkeiten nicht erkennen lässt und darüber hinaus kurzfristige Zahlungsstockungen nicht abbilden kann. Geschäftsleiter sollten daher auf der Grundlage der ordnungsgemäßen Buchführung weiterhin die erweiterte Liquiditätsbilanz einsetzen und die Finanzpläne berücksichtigen – gerade auch, um bei der Antwort auf die Frage „Zahlungsunfähig oder (noch) nicht?“ für ihr Unternehmen und sich selbst auf der sicheren Seite zu sein.
Kein Schema F – unterschiedliche Sanierungsoptionen prüfen
„Grundsätzlich gilt: Geschäftsleiter sollten eine notwendige Restrukturierung oder Sanierung rechtzeitig angehen, wenn ihr Unternehmen noch Reserven hat“, erläutert Schmidt. „Wenn Gegenmaßnahmen rechtzeitig eingeleitet werden, bestehen bessere Chancen auf einen erfolgreichen und nachhaltigen Ausgang. Einfach abzuwarten und auf eine baldige Besserung der Konjunktur und der wirtschaftlichen Gesamtlage zu setzen, ist keine sinnvolle Strategie.“ Geschäftsleiter, deren Unternehmen sich in einer Krise befindet oder absehbar darauf zusteuert – was unter anderem an der zunehmenden Ausschöpfung der gewährten Kontokorrentlinien erkennbar ist – sollten auch eine Neuaufstellung mit Hilfe der Instrumente des Sanierungsrechts zumindest als Option ansehen. Bei finanziellen Schwierigkeiten ist zunächst immer der Versuch einer außergerichtlichen Sanierung sinnvoll. „Dies erfordert jedoch oft schwierige Verhandlungen mit den Gläubigern, die in der Regel sämtlich dem Sanierungskonzept zustimmen müssen. Stimmt auch nur ein Gläubiger nicht zu, kann es schwierig werden, auf diesem Weg eine Lösung zu finden“, sagt Schmidt. „Im deutschen Sanierungs- und Insolvenzrecht stehen Geschäftsleitern gleichwohl verschiedene weitere Möglichkeiten und Verfahren zur Verfügung.“
• Ist die Zahlungsfähigkeit des Unternehmens gesichert, gibt es seit dem 1. Januar 2021 die Möglichkeit einer Restrukturierung nach dem Unternehmensstabilisierungs- und - Sanierungsgesetz, kurz StaRUG. Dies kann ein erfolgversprechender Schritt sein, da im StaRUG-Verfahren nur noch drei Viertel der betroffenen Gläubiger dem Restrukturierungsplan zustimmen müssen. Mit dem StaRUG kann ein Unternehmen sich mit einem angepassten Finanzplan außerhalb eines Insolvenzverfahrens und unter Ausschluss der Öffentlichkeit neu ausrichten.
• Kommt das StaRUG nicht in Betracht, weil das Unternehmen seine Zahlungsfähigkeit absehbar nicht (mehr) sicherstellen kann, stehen mit dem Schutzschirmverfahren, der Eigenverwaltung (Sanierung in eigener Regie), aber auch mit der Regelinsolvenz weitere Sanierungsverfahren zur Verfügung. Allerdings ist die Antwort auf die Frage „Ist mein Unternehmen noch zahlungsfähig?“ nicht nur mit dem Blick auf eine mögliche Haftung, sondern insbesondere bei einer vorinsolvenzlichen StaRUG-Restrukturierung und bei einem Schutzschirmverfahren von Belang. Beide Verfahren können Unternehmen nur dann beantragen, wenn einem Unternehmen die Zahlungsunfähigkeit nur droht, sie aber noch nicht eingetreten ist. „Es zeigt sich: Geschäftsleiter, deren Unternehmen aufgrund der Multi-Dauerkrise in eine wirtschaftliche Schieflage geraten sind oder absehbar geraten werden, haben mehrere Möglichkeiten und Verfahren, um Krisen zu meistern: Dieses Ziel wird am besten erreicht, wenn alle Beteiligten wissen, was sie zu tun haben, und wenn frühzeitig, schnell und konsequent gehandelt wird“, sagt Schmidt.
Energie- und Wirtschaftskrise: Änderungen im Insolvenzrecht
Aufgrund steigender Rohstoff- und Energiepreise hat der Gesetzgeber zum 9. November 2022 (SanInsKG) Erleichterungen bei der Insolvenzantragspflicht wegen Überschuldung und beim Zugang zu den Sanierungsverfahren geschaffen:
• Der Zeitraum für die Dauer der insolvenzrechtlichen Fortführungsprognose wird von zwölf auf vier Monate herabgesetzt. Auf diese Weise wird die Hürde für eine belastbare Prognose vermindert und die Insolvenzantragspflicht bei Überschuldung gelockert. Die Regelung gilt auch für Unternehmen, bei denen bereits vor dem Inkrafttreten des SanInsKG eine Überschuldung vorlag, aber der für eine rechtzeitige Insolvenzantragstellung maßgebliche Zeitpunkt noch nicht verstrichen ist. Entscheidend ist dafür der 9. November 2022, zu dem das SanInsKG in Kraft getreten ist. An der Insolvenzantragspflicht wegen Zahlungsunfähigkeit – bislang mit Abstand der häufigste Grund für Unternehmensinsolvenzen – ändert das SanInsKG nichts.
• Die Höchstfrist für die Stellung eines Insolvenzantrags wegen Überschuldung ist im SanInsKG von sechs auf acht Wochen erhöht worden. So soll Unternehmen mehr Zeit für den Versuch einer außerinsolvenzlichen Restrukturierung (StaRUG) verschafft werden. Die vorgegebene Frist darf nicht ausgeschöpft werden, wenn zu einem früheren Zeitpunkt bereits feststeht, dass eine nachhaltige Beseitigung der Überschuldung nicht erwartet werden kann. Liegt eine Zahlungsunfähigkeit vor, ist der Insolvenzantrag trotzdem binnen einer Frist von nur drei Wochen ab dem Eintritt der Zahlungsunfähigkeit zu stellen, auch wenn die Frist wegen Überschuldung noch läuft.
• Die Regelungen des SanInsKG gelten bis zum 31. Dezember 2023. Doch bereits ab dem 1. September 2023 kann der ursprüngliche Prognosezeitraum von zwölf Monaten wieder relevant werden. Wenn für ein Unternehmen weniger als vier Monate vor dem Jahresende 2023 feststeht, dass es unmittelbar nach Ablauf der vorübergehenden Änderungen unter dem dann wieder maßgeblichen Überschuldungsbegriff überschuldet sein wird, ist gegebenenfalls innerhalb von sechs Wochen Insolvenzantrag zu stellen.
• Die zur Stellung eines Insolvenzantrags genannten aktuellen Höchstfristen von drei Wochen bei Zahlungsunfähigkeit und acht Wochen bei Überschuldung dürfen nur ausgenutzt werden, wenn die Beseitigung der Insolvenzreife innerhalb der Antragsfrist wahrscheinlich erfolgt.
• Angepasst wurden auch die Planungszeiträume für Eigenverwaltungs- und Restrukturierungsvorhaben (StaRUG). Unternehmen mussten bei solchen Vorhaben bislang Finanzpläne vorlegen, aus denen sich für einen Zeitraum von sechs Monaten ergibt, dass das Unternehmen durchfinanziert ist. Dabei müssen Einnahmen und Ausgaben des laufenden Geschäftsbetriebes genauso wie die Sanierungs- und Verfahrenskosten berücksichtigt werden. Die diesbezüglichen Planungszeiträume für die Erstellung von Eigenverwaltungs- und Restrukturierungsplanungen sind mit dem SanInsKG bis zum 31. Dezember 2023 von sechs auf vier Monate herabgesetzt worden.