Interview

Dr.-Ing. Barbara Siebert - Gutachterin

„Verglasungen sind baurechtlich eine gewisse Grauzone“

Dr.-Ing. Barbara Siebert bearbeitet im eigenen Ingenieurbüro mit sieben Ingenieuren ein breites Portfolio für den konstruktiven Glas- und Metallbau: angefangen von der statischen Berechnung über die baurechtliche Objektbetreuung bis hin zu Gerichtsgutachten. Sie bedauert, dass Planungsabläufe immer mehr zu Lasten der Metallbauer gehen, und fordert mehr Engagement von Architekten und Ausschreibenden. Am Beispiel von Balkonverglasungen erläutert sie, worauf geachtet werden muss und welche Gläser verbaut werden dürfen.

metallbau: Wie sollte die fachgerechte Planung und Ausführung einer Balkonverglasung ablaufen?

Dr.-Ing. Barbara Siebert: Im normalen Prozedere gibt es eine Vor-, Entwurfs- und Genehmigungsplanung, danach folgen die Ausschreibung und die Ausführungsplanung. Meist werden aber die frühen Planungsschritte weggelassen. Das heißt, die Ausschreibungen sind in vielen Fällen lückenhaft, ungenügend oder einfach falsch. Es gibt Handwerker, die bieten trotzdem an, weil sie den Auftrag haben wollen. Obwohl Details noch nicht feststehen, gehen sie bewusst Risiken ein, probieren es einfach und bieten günstig an. Andere Handwerker, die sich im Vorfeld Gedanken machen, sich mit dem komplizierten Baurecht auskennen und mögliche Erfordernisse von vornherein einkalkulieren, sind dann oft zu teuer. In der Praxis gewinnt der Billigere den Auftrag.

metallbau: Abgerechnet wird zum Schluss. Ist der Billigere denn am Ende auch erfolgreicher?

Siebert: Ja, leider ganz oft. Die meisten Billigheimer kommen häufig nur mit einem blauen Auge davon. Ich kenne Handwerker, die es drauf anlegen und bei zehn Projekten nur einmal Ärger bekommen. Das ist für die günstiger, als für zehn Projekte die Statik zu berechnen oder vorhabenbezogene Bauartgenehmigungen einzuholen. Nur manchmal endet so etwas dann doch vor Gericht. Die Probleme für das Handwerk beginnen bereits bei den meist sehr mangelhaften Ausschreibungen.

metallbau: Warum ist die Ausschreibungspraxis so lax?

Siebert: Die Planungsprozesse im Bereich Glas und Fassade stimmen schon seit Jahrzehnten nicht mehr. Eigentlich müssen die Auftraggeber über ihre Architekten oder die Planungsbüros alle Anforderungen genau beschreiben und vorgeben. Die verlagern dies aber zunehmend auf den ausführenden Handwerker, der damit völlig überlastet ist. Er hat ja nicht nur Balkonverglasungen, sondern baut Treppen, Brüstungen, Fenster, Gitter, Vordächer, Carports usw. Für alles gibt es spezielle Normen, die Bauarten brauchen statische Berechnungen, müssen über Prüfzertifikate und Konformitätserklärungen verfügen und obendrein gibt es verschiedene Bauordnungen und immer wieder neue Vorschriften.

metallbau: Kann sich der Metallbauer etwa nicht darauf verlassen, von einem Hersteller ein normkonformes Bauprodukt zu beziehen mit allen notwendigen Zertifikaten?

Siebert: Vor allem bei sicherheitsrelevanten Produkten, was eine Balkonverglasung ja ist, sollte das so sein. Die Praxis sieht leider manchmal anders aus. Gehandelt werden darf alles, was ein CE-Zeichen trägt – vor allem im Internet. Nur für den Einbau gilt in Deutschland der Grundsatz des sicheren Bauens. Deshalb sollte der Metallbauer nicht alles glauben, was behauptet wird, und eigentlich alles hinterfragen. Seriöse Anbieter und Systemgeber haben Bauartgenehmigungen, Prüfzeugnisse und Leistungserklärungen und schicken die auch zu. Aber die Zertifikate kosten den Hersteller sehr viel Geld und machen zugelassene Bauprodukte und Bauarten teurer. Ich kann aber nur warnen, das billigste Produkt zu verwenden. Das kann sehr schnell vor Gericht enden und kostspielig werden.

metallbau: Was ist beim Glas zu beachten?

Siebert: Vieles. Zunächst einmal gilt unsere Glasbemessungsnorm, die DIN 18008. Sie besagt beispielsweise, dass monolithisches ESG-Glas an den frei zugänglichen Kanten mit einem Profil zu schützen ist. Weil Glas durch einen Schlag gegen die Kante viel schneller zu Bruch geht als bei einem Schlag auf die Fläche. Bei Balkonverglasungen gibt es eigentlich nur frei zugängliche Kanten. Aber Kantenschutz macht kaum ein Hersteller, es entspricht nicht der gewünschten Optik. Deshalb müsste eigentlich VSG verwendet werden. Aber das ist statisch ungünstiger, weil der Verbund zwischen den Scheiben in der Berechnung nicht angesetzt werden darf. Außerdem zieht die PVB-Folie gern Feuchtigkeit.

metallbau: Gibt es denn eine Lösung für dieses Problem an frei zugänglichen Kanten bei monolithischem ESG-Glas?

Siebert: Es ist in der Tat ein vernachlässigtes Problem und eine gewisse Grauzone. Bei VSG müssten spezielle Folien verbaut werden, um eine annähernd gleiche Tragfähigkeit wie bei monolithischem Glas zu erreichen, das ist aber teuer. Die Schweizer haben beispielsweise andere Normen für die freie Glaskante und haben eine etwas andere Herangehensweise an dieses Problem.

metallbau:  Wie sieht es mit der Verkehrssicherheit, Tragsicherheit und Absturzsicherheit von Balkonverglasungen aus?

Siebert: Das ist ein weiterer wichtiger Aspekt. Vor allem bei filigranen Konstruktionen ist auch immer die mögliche Schadensfolge zu betrachten. Was passiert, wenn eine Scheibe bricht? Fällt sie nach innen oder auf eine belebte Fußgängerzone? Auch besteht bei ESG-Gläsern die Gefahr von Spontanversagen, das heißt, sie können ohne Fremdeinwirken einfach zerplatzen. Grund sind kleinste Nickelsulfid-Partikel im Glasgemenge, die sich sehr langsam ausdehnen können. Daher sollten vor allem für sicherheitsrelevante Anwendungen heißgelagerte ESG-H oder ESG-HF verwendet werden. Auch sind Verglasungen immer statisch nachzuweisen gegenüber Windlasten, geschosshohe Scheiben müssen eine absturzsichernde Funktion haben.

metallbau: Welche Gläser dürfen in Deutschland für Balkonverglasungen nun verbaut werden?

Siebert: Das ist leider alles sehr kompliziert. Zunächst unterscheidet man zwischen Bauprodukten und Bauarten. Die ‚Bauart‘, also die Konstruktion, muss geregelt sein, also beispielsweise der DIN 18008 entsprechen. Für ungeregelte Bauarten wird eine vorhabenbezogene bzw. Allgemeine Baugenehmigung benötigt. In der DIN 18008 gibt es auch Angaben über „erlaubte“ Glasarten und konstruktive Randbedingungen, z.B. die Art der Lagerung. Das ‚Bauprodukt‘, also die Glasscheibe, wird zunächst, um das CE-Kennzeichen zu erhalten, gemäß einer harmonisierten europäischen Norm gefertigt sein. Die Fertigung nach den europäisch-harmonisierten Produktnormen oder die Kennzeichnung mittels CE-Zeichen kann für die Beurteilung alleine nicht ausreichend sein. Steht in der Leistungserklärung, die man immer anfordern sollte, für eine relevante Eigenschaft „No Performance Determined“ (NPD), ist keine Leistung erklärt und der Einbau verboten. Nur wenn die erklärte Leistung mindestens den Bauwerksanforderungen entspricht, ist eine Verwendung erlaubt. Mit ESG-HF mit Kantenschutz geht man immer sicher, ebenso mit VSG, welches die bauartspezifischen Anforderungen nach DIN 18008 (2020) erfüllt.

metallbau: Mit welchen Mängeln werden Sie als Gutachterin meist konfrontiert?

Siebert: Die Befestigung einer Balkonverglasung ist ein Dauerthema. Hier geht es beispielsweise um geringe Randabstände bei Dübelbefestigungen im Beton zwischen 50 und 80 Millimeter und die Fragen, ob man noch innerhalb des Bewehrungskorbes ist oder welche die passenden Dübel sind. Viele randnahe Dübelbefestigungen kann man nicht nachweisen. Schwierig sind auch Abstandsmontagen, wenn die Bestandskonstruktion nicht eben ist und unterfüttert werden muss. Maximal darf die halbe Dicke des Befestigungsprofils unterfüttert werden, sonst muss das in der Statik berücksichtigt werden. Wenn am Boden verankert wird, ist auch darauf zu achten, dass zerstörte Dichtungsebenen erneuert werden. Ein weiteres Thema sind randnahe Bohrungen im Glas. Auch hier gibt es Mindestabstände.

metallbau: Welche Verglasungsprinzipien können Sie empfehlen?

Siebert: Ob Falt-Schiebe-, Dreh-Schiebe- oder reine Schiebesysteme, ist dem Bauherrn überlassen. Je filigraner, desto empfindlicher sind die Systeme. Im Mietwohnbau sollten sicher robustere Anlagen verbaut werden. Ein zentrales Thema ist die Wartung in regelmäßigen Abständen, also säubern, justieren, pflegen.

metallbau: Empfehlen Sie den Einbau von Balkonverglasungen?

Siebert: Prinzipiell ist es eine sinnvolle Investition. Sie erweitert den Wohnraum und schützt auch in klimatisch rauen Umgebungen. In Österreich findet man bereits sehr viele Verglasungen, in Deutschland noch relativ selten. Aus baurechtlicher und gutachterlicher Sicht gibt es noch Nachbesserungsbedarf, insbesondere bei der Glasart, dem Kantenschutz und der Schadensfolge bei Bruch.

www.ing-siebert.de

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