Interview

Schweißexperte Rudolf Rauch

„460er-Stahl wäre ein großer Gewinn!“

Rudolf Rauch ist eine Koryphäe der Schweißtechnik: Schon in den 1980er-Jahren forschte er auf dem Gebiet für die voestalpine Stahl, ab März 2004 übernahm er als Fachverantwortlicher die Gruppe Schweißen Grobblech/Warmband im Bereich Forschung und Entwicklung von voestalpine Stahl. Es folgten zahlreiche Veröffentlichungen, Vorträge und Gremientätigkeiten. Von 1997 bis 2017 war Rauch Mitglied im Fachnormenausschuss „Schweißtechnik“ des Österreichischen Normungsinstituts. Obwohl seit November 2017 pensioniert, denkt er nicht daran, der Schweißtechnik den Rücken zu kehren. U.a. bildet Rauch am Wirtschaftsförderungsinstitut der Wirtschaftskammer Österreich Schweißwerkmeister und Schweißtechnologen im Bereich Metallurgie zum International Welding Specialist und International Welding Engineer aus.

metallbau: Herr Rauch, wie weit ist die Entwicklung hochfester Stähle gediehen?

Rudolf Rauch: Es gibt mittlerweile hochfeste gut schweißbare Stähle mit einer Streckgrenze von bis zu 1300 MPa. Der wesentliche Treiber für diese hoch- und höchstfesten Stähle ist der Kranbau, insbesondere der Mobilkran- und Teleskopkranbau. Diese schweißgeeigneten Werkstoffe haben einen Kohlenstoffgehalt bis maximal 0,2 %. Es gibt darüber hinaus auch noch die speziell für den Automobilbau produzierten klassischen Vergütungsstähle, die sogenannten pressgehärteten Stähle (z. B. 34MnB5). Allerdings haben diese einen Kohlenstoffgehalt von ca. 0,35 % und sind nur unter Einhaltung besonderer Bedingungen optimal schweißbar (z. B. phs-ultraform).

metallbau: Finden diese Stähle Anwendung im Baubereich?

Rauch: Nein. Dafür gibt es verschiedene Gründe. Vor allem ist das normativ bedingt. Im Eurocode 3, der EN 1993-1-ff, sind nur Werkstoffe bis zu 460 MPa Streckgrenze zugelassen. Teil 12 im Eurocode (EN 1993-1-12) bezieht sich zwar auf Stähle mit einer Streckgrenze von 500 bis 700 MPa. Allerdings sind dort spezielle Anforderungen an die Eigenschaften definiert. Zum Beispiel muss die Gleichmaßdehnung (nach EN 1993-1-12:2007(D)) Rg bei > 5 % und die Gesamtdehnung bei min. 12 % liegen. Vor allem aber muss das Streckgrenzen-Verhältnis kleiner als 0,95 sein. Das wird von den meisten Lieferanten nicht hundertprozentig sichergestellt, und daran wird sich in absehbarer Zeit auch nichts ändern. Ein weiterer Grund ist, dass auch die Halbzeuge, die man beispielsweise für den Hallenbau braucht, nur bis zu einer 460er-Streckgrenze angeboten werden. Ob Breitflanschträger oder geschweißte Rohprofile: Alle gehen von der Norm aus, und da ist nun mal dieser Wert vorgegeben.

metallbau: Auch der Baustahl S355 ist hochbelastbar und hat deshalb viele Vorteile. Er reduziert den Materialeinsatz und damit Kosten. Schließlich trägt er auch zum Klimaschutz bei, weil man Ressourcen schont. Warum wird er trotzdem noch so wenig eingesetzt?

Rauch: Die Statik und die Normenauslegung würden es hergeben, S355 anstelle des S235 zu verwenden. Aber meiner Meinung nach sind die Erzeuger von Stahlhallen erzkonservativ und verwenden ihn einfach deshalb viel zu wenig. Meine Überlegung ist – und das habe ich schon einmal im Fachmagazin metallbau (Ausgabe: 12/2018) dargelegt  — dass man auf die 460er-Streckgrenze geht. Empfehlen würde ich also statt des S235Jx die thermomechanisch gewalzten Stahlgüten S355M/ML oder S460M/ML nach EN 10025-4. Bei diesen Werkstoffen wird die Festigkeit nicht über den Kohlenstoffgehalt (der C-Gehalt liegt hier unter 0,1 %), sondern über den Verfestigungsmechanismus der Kornfeinung hergestellt. Die Werkstoffe haben eine sehr gute Schweißeignung und die Aufhärtung ist wesentlich geringer. Materialstärken bis 70, 80 mm ohne Vorwärmung zu schweißen ist damit überhaupt kein Problem. Wenn Sie z. B. eine Brücke bauen, mit 40, 60 oder 70 mm Wanddicke, müssen Sie einen klassischen Baustahl in 355J2 ab ca. 30 mm Wanddicke auf ca. 150 °C vorwärmen, weil er einen Kohlenstoffgehalt von ca. 0,2 % hat. Wenn Sie stattdessen einen M-Stahl gleicher Streckgrenze verwenden würden, der die Festigkeit über das Feinkorn erhält und einen geringeren C-Wert hat, brauchen Sie überhaupt nicht vorzuwärmen. Natürlich hängt die Vorwärmung von den Witterungsbedingungen ab. Im Sommer, wenn die Bauteiltemperatur bei Raumtemperatur oder darüber liegt, können Sie ohne Vorwärmung Schweißarbeiten an den Bauteilen ausführen. Im Winter dagegen, bei Minusgraden, ist auch in diesem Fall nach den Konzepten der EN 1011-2 der M-Stahl vorzuwärmen. Allerdings nur auf niedrigere Temperaturen.

metallbau: Was ist mit dem Hallenbau?

Rauch: Dort gilt das natürlich auch. Im Hallenbau wäre es jetzt an der Zeit, vom 235er auf den 355er umzusteigen, aber vor allem auf den 460er-M--Stahl! Das wäre ein großer Gewinn.

metallbau: Fassen Sie doch bitte die Vorteile des 460er-M-Stahls zusammen.

Rauch: Die großen Vorteile sind die deutlich besseren schweißtechnischen Verarbeitungsbedingungen. Ohne Vorwärmung ist das Schweißen bis zu ca. 80 - 90 mm Wanddicke möglich. Wenn man die Umformbarkeit und die Bearbeitbarkeit, ob mit Laser, Bohren oder Stanzen, betrachtet, ist er gleichwertig zum S235N. Außerdem gibt es durch den niedrigen Kohlenstoffgehalt keine Kaltrisse, nur eine geringe Aufhärtung und daher in den meisten Fällen keinen Anlass für ein Vorwärmen.

metallbau: Welche Entwicklungen sehen Sie für den Hallenbau in der Stahlleichtbauweise?

Rauch: Keine. Dagegen spricht der Eurocode 3. Es würde aber durchaus Möglichkeiten geben, Hallen in Leichtbauweise zu fertigen. Beispielsweise in Form von Korbbogenhallen aus dünnem DD11 oder DD13, in 1,5 bzw. 2 mm Blechstärke, also aus Weichstählen, mit besonderer Kaltumformeignung. Solche Kons­truktionen sind auch bereits am Markt vorhanden.

metallbau: Sehen Sie Werkstoffe, die das Potenzial haben, Stahl in Zukunft ganz oder teilweise zu ersetzen?

Rauch: Nein, momentan eigentlich nicht. Stahl ist einfach sehr vielfältig und durch die vorhandenen Legierungsmöglichkeiten und Variationen in der Wärmebehandlung in seinen Eigenschaften so variabel, dass ich hier keine Alternative sehe.

metallbau:  Es wird wohl eher an der Herstellung liegen, neue Wege zu gehen… Stichwort Wasserstoff.

Rauch: Genau. Aber ich denke, dass die Anlagen, die heute produzieren, nicht so schnell vom Markt zu verdrängen sind. Global betrachtet,en heute noch überall Stahlwerke und Hochöfen gebaut, die von der Leistungsfähigkeit her sehr effizient sind. Es hat schon immer Versuche gegeben, Hochöfen zu substituieren. Das hat bisher nicht funktioniert. Ich habe so meine Zweifel, dass es in einem kurzen Zeitraum gelingen wird, schnell von Kohle auf Wasserstoff umzusteigen. Zumal die Frage noch nicht geklärt ist, wo all dieser grüne Wasserstoff herkommen soll.

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